Internetportal Westfaelische Geschichte / von Ralf Blank
Die Nacht des 16./17. Mai 1943 -
"Operation Züchtigung": Die Zerstörung der Möhne-Talsperre
In der Nacht des
16./17.05.1943 führte das britische Bomber Command die
"Operation Chastise" ("Züchtigung") gegen
fünf Talsperren im Sauerland und im
Waldecker Land durch. Dabei wurde die von 1908 bis 1913 erbaute, 40 m hohe und 650 m lange Staumauer der Möhne-Talsperre zerstört. Sie hat ein Fassungsvermögen von 135 Millionen Kubikmetern und erstreckt sich auf eine Länge von über zehn Kilometern. Bis heute gehört die Möhne-Talsperre zu den größten Talsperren in Deutschland.
Zum Zeitpunkt des Angriffs im Mai 1943 war die Talsperre bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Nach der Zerstörung fielen den talwärts strömenden Wassermassen laut amtlichen Verlautbarungen mindestens
1.579 Menschen zum Opfer. Darunter befanden sich mehr als 1.020 ausländische Arbeitskräfte und Kriegsgefangene. Erst bei Hattingen nahm die zerstörerische Wucht der Flutwelle ab. Selbst im Ruhrtal bei Hagen und noch in Steele bei Essen kamen Menschen durch das Hochwasser zu Tode. Durch die ebenfalls geplante Zerstörung des Staudamms der Sorpe-Talsperre bei Arnsberg und der Mauer der Ennepe-Talsperre bei Hagen hätten sich die Auswirkungen der nächtlichen Operation zweifellos noch weitaus schwerwiegender gezeigt. Auch die 47 m hohe und 400 m lange Staumauer der Eder-Talsperre im Waldecker Land wurde in dieser Nacht zerstört. Hierbei fanden etwa 70 Menschen den Tod, die Wasserflut reichte bis in die Innenstadt von Kassel.
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Verheerende Auswirkungen
Die nach dem Bruch der Möhne-Talsperre entstandenen Schäden waren verheerend und hatten das gesamte Ruhrtal weiträumig verwüstet. Am 19.05.1943 fasste der westfälische Landeshauptmann Karl Friedrich Kolbow seine Eindrücke nach der Besichtigung der Angriffsschäden in einem Brief an den Ministerialdirektor im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, Dr. Ludwig Runte, wie folgt zusammen:
"Die Zerstörung der Möhnetalsperre übersteigt alle Vorstellungen. Das untere Möhnetal und das Ruhrtal zwischen Neheim und Hengsteysee ist völlig zerstört. Wie oft hat die Menschheit schon solche fürchterlichen Rückschläge aus ihrer technischen Tätigkeit erleben müssen! Niemand hätte im Jahre 1911 bei der Fertigstellung der Möhnetalsperre geglaubt, dass sie der Heimat mehr Unheil als Segen bringen würde."
Im Deutschen Reich machten schnell Gerüchte die Runde. In weiten Teilen der Bevölkerung wurden nach den Meldungen des Sicherheitsdienstes der SS (SD) bereits wenige Tage nach dem Angriff bis zu 30.000 Todesopfer gemutmaßt. Anfang Juni 1943 veröffentlichten die deutschen Behörden in der Presse die Zahl der bis dahin im Überflutungsgebiet an der Möhne und Ruhr geborgenen Toten. Mit dieser ungewöhnlichen Maßnahme nach einem Luftangriff versuchte die NS-Regierung, weiteren Gerüchten entgegenzuwirken. Nach der amtlichen und aufgrund ihrer Intention durchaus glaubhaften Pressemeldung, zum Beispiel in der Hagener Zeitung vom 01.06.1943 unter der Schlagzeile "Die endgültigen Zahlen der Opfer des Luftangriffes auf die Möhne-Talsperre", wurden bis dahin 1.579 Todesopfer festgestellt, darunter nicht weniger als 1.026 ausländische Arbeitskräfte. 56 deutsche "Volksgenossen" galten bis dato noch als vermisst - die Zahl der damals noch vermissten ausländischen Arbeitskräfte werden in dem Artikel nicht genannt. Nach einem Bericht des Landrats im Kreis Arnsberg waren am 03.06.1943, also nach Abfassung der Pressemeldung, in seinem Bezirk noch 34 Deutsche und 155 Ausländer als vermisst gemeldet.
Die von amtlicher Seite veröffentlichte Zahl von
(mindestens) 1.579 Toten liegt um etwa 300 Personen höher, als die bisher veröffentlichten Angaben in der einschlägigen Literatur und in den Medien. Friedrich gibt insgesamt " 1300 Zivilisten" an, ebenfalls ohne Quellenangabe, möglicherweise aber in freier Anlehnung an Euler.
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Auf ihrem Weg durch das Ruhrtal zog die Flutwelle eine breite Schneise der Verwüstung. Auch die kleine Gemeinde Wickede an der Ruhr, die damals etwa 3.300 Einwohner hatte, wurde fast vollständig überflutet. Mindestens 118 Einwohner fanden den Tod. In Schwerte an der Ruhr, rund 50 Kilometer von der Möhne-Talsperre entfernt, stand das Wasser mit dem darin enthaltenen "Treibgut" haushoch in der Altstadt. Flussabwärts an der mittleren Ruhr waren die Wasserwerke bei Westhofen und die Turbinenhäuser der beiden Elektrizitätswerke am Hengsteysee, die 1937 im 'Ruhr Plan' als wichtige
Angriffsziele für das Bomber Command aufgeführt wurden, vollständig überflutet. Zeitungsbericht des "Guardian" vom 18.05.1943 über die Auswirkungen der Bombardierung
"Die endgültigen Zahlen der Opfer des Luftangriffes auf die Möhne-Talsperre", in: Hagener Zeitung v. 01.06.1943, StadtA Hagen. Euler nennt, ohne Quellenangabe, 1069 Tote und 225 Vermisste, vgl. Helmut Euler, Als Deutschlands Dämme brachen. Die Wahrheit über die Bombardierung der Möhne-Eder-Sorpe-Staudämme 1943, Stuttgart 1979 (6. Aufl.), S. 218.
Jörg Friedrich, Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945, Berlin 2002, S. 104. Am Morgen des 17.05.1943, um 7.30 Uhr, floss noch immer 1.500 bis 2.000 Kubikmeter Wasser aus der geborstenen Staumauer der Möhne-Talsperre. Am Hengsteysee bei Hagen bewegte sich die zu dieser Zeit eintreffende Flutwelle immer noch mit einer Geschwindigkeit von drei Metern in der Sekunde.
Schwierigkeiten bei der Versorgung mit Trinkwasser aus den überfluteten Wasserwerken, vollgelaufene Rieselfelder und Klärwerke, vernichtete landwirtschaftliche Nutzflächen, auf den Weiden und in den Ställen ertrunkenes Vieh und viele weitere Auswirkungen des Angriffs beeinträchtigten über Monate den Alltag der Bevölkerung in den an der Ruhr gelegenen Städten und Dörfern.
Die gewaltigen Umweltschäden, hervorgerufen z.B. durch Klärschlamm, Tierkadaver, Treibstoffe, Schwermetalle und Industrielasten, fanden damals noch keine Erwähnung in der ansonsten detaillierten Schadensbilanz; sie zeigen sich heute bei Bohrungen z.B. in der Seenplatte im Norden von Hagen. Auf dem Höhepunkt der
"Battle of the Ruhr" im Sommer 1943 ging der Krieg ging darüber hinweg. Nur wenige Tage nach der "Operation Chastise", in der Nacht des 23.05:/24.05.1943, unternahm das Bomber Command mit einer Streitmacht von 823 überwiegend viermotorigen Maschinen gegen
Dortmund den bis dahin
schwersten Flächenangriff auf eine deutsche Stadt.
In Dortmund
fehlte es der Feuerwehr an Löschwasser, um die zahllosen Brände zu bekämpfen - die Wasserversorgung an der Ruhr lief erst wieder ab Mitte Juni 1943 weitgehend störungsfrei.
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