ZEIT ONLINE / 19. November 2024
Ukrainekrieg
Ukraine soll erstmals ATACMS-Raketen in Russland eingesetzt haben
Die
neu freigegebenen US-Raketen sollen erstmals ein Munitionslager in Russland getroffen haben. Belege dafür gab es zunächst nicht, Russland will sie abgewehrt haben.
Kurz nach der Aufhebung der Beschränkungen für weitreichende US-Waffen bei ukrainischen Angriffen auf russisches Gebiet soll die Ukraine erstmals einen Angriff mit diesen Raketen ausgeführt haben.
Sechs ATACMS-Raketen hätten ein "Objekt" in der
russischen Grenzregion Brjansk angegriffen, teilte das russische Verteidigungsministerium mit.
Fünf der Raketen seien von der Flugabwehr abgeschossen,
eine beschädigt worden sein. Deren Trümmer hätten auf dem Gebiet des "militärischen Objekts" ein Feuer verursacht, das gelöscht worden sei. Belege für die russischen Angaben gibt es bisher nicht; durch den Angriff soll niemand verletzt worden sein.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow bezeichnete den Angriff als Signal dafür, dass der Westen den Konflikt weiter eskalieren wolle.
"Diese hochtechnologischen Raketen könnten ohne die Amerikaner nicht eingesetzt werden",
sagte er laut der staatlichen Nachrichtenagentur
Tass bei dem G20-Gipfel in Brasilien. Zugleich lobte er Bundeskanzler Olaf Scholz dafür, dass er die Lieferung der deutschen Marschflugkörper Taurus an die Ukraine ablehne. Das sei eine
"verantwortungsvolle Haltung", sagte Lawrow.
Das Portal RBK Ukrajina hatte zuvor unter Verweis auf Sicherheitskreise berichtet, das ukrainische Militär habe die Raketen bei einem Angriff auf ein Munitionslager im Osten der Region eingesetzt. Offizielle Angaben gab es dazu nicht. Allerdings teilte zuvor der Generalstab in Kyjiw mit, ein Munitionslager nahe der Stadt Karatschew im Osten Brjansks sei angegriffen worden. Welche Waffe dabei eingesetzt worden sein soll, teilte das Militär nicht mit.
Zunächst kein unabhängiger Beleg für Angriff auf Lager
Karatschew liegt etwa 130 Kilometer östlich der russisch-ukrainischen Grenze und somit außerhalb der Reichweite von GMLRS-Raketen, deren Einsatz in unmittelbarem Grenzgebiet die USA bereits im Sommer gestattet hatten.
ATACMS-Raketen haben je nach Typ eine Reichweite von
165 oder
300 Kilometern.
In sozialen Netzwerken hatten sich in der Nacht Videos von einem Brand verbreitet, die von dem Gelände des Munitionslagers stammen sollen. Die satellitenbasierte Feuerkarte der Nasa zeigt allerdings keinen Brand auf dem Gelände des Lagers. Normalerweise lösen Angriffe auf Munitionslager heftige Brände aus, da es dabei häufig zu Folgeexplosionen kommt. Vor mehreren Monaten hatte die Ukraine mehrere Munitionslager mit Drohnen angegriffen und dabei Zehntausende Tonnen Munition zerstört.
Dass die Nasa-Karte kein Feuer zeigt, könnte aber auch an
Bewölkung liegen – oder aber ein
Hinweis darauf sein, dass der mutmaßliche Angriff
fehlschlug. Dem würden wiederum Videos widersprechen, die in Karatschew aufgenommen worden sein sollen und auf denen mehrere Explosionen kurz nacheinander zu hören und Feuer zu sehen sind.
USA lehnten Einsatzerlaubnis für ATACMS lange ab
Raketen des Typs ATACMS, zunächst in der Version mit
165 Kilometern Reichweite, haben die USA vor mehr als einem Jahr erstmals an die Ukraine geliefert. Die Version mit
300 Kilometern Reichweite erhielt die Ukraine im April. Dabei wurden sie unter anderem bei Angriffen auf russische Militärflugplätze und geparkte Kampfhubschrauber auf ukrainischem Gebiet eingesetzt sowie bei Attacken auf Flugabwehrsysteme und weitere militärische Ziele auf der Krim.
Trotz
wiederholter Anfragen aus
Kyjiw lehnten die
USA aber ab, den
Einsatz der Raketen auf
russischem Staatsgebiet zu
gestatten. Die Ukraine sowie auch Experten etwa vom Militärthinktank Institute for the Study of War (ISW) verwiesen darauf, dass die Raketen geeignet seien, um russische Militärflugplätze im Grenzgebiet anzugreifen.
So könne die Gefahr durch russische Gleitbomben, die von Kampfjets aus abgefeuert werden und ein großes Problem für die ukrainischen Bodentruppen darstellen, gesenkt werden. Die US-Regierung sagte allerdings immer wieder, nach ihrer Einschätzung würde der Einsatz der Raketen auf russischem Gebiet keinen entscheidenden Einfluss auf den Kriegsverlauf nehmen.
Am
Wochenende hoben die USA Berichten zufolge
die Beschränkung auf. Die Ukraine kündigte an, erste Angriffe mit
ATACMS innerhalb
weniger Tage ausführen zu wollen. Anlass für die Entscheidung der USA soll der Einsatz nordkoreanischer Soldaten durch Russland sein. Die Lockerung früherer Auflagen, die etwa Angriffe mit GMLRS-Raketen im Grenzgebiet betrafen, hatten die USA im Frühjahr unter anderem mit der Lieferung von Raketen durch Nordkorea an Russland begründet.
Ukraine hofft auf Unabhängigkeit durch eigene Raketen
Die Ukraine hat von den USA mutmaßlich nur eine
niedrig dreistellige Zahl von A
TACMS-Raketen verschiedener Versionen erhalten. Um bei Angriffen auf russische Militärziele in der Tiefe künftig unabhängig zu sein – und nicht auf deutlich leistungsärmere Drohnen angewiesen zu sein –, will das Land sein Raketenprogramm voranbringen und künftig
eigene Marschflugkörper und
Raketen produzieren.
Laut Präsident Wolodymyr Selenskyj soll etwa der ukrainische Marschflugkörper
Neptun, der bereits mehrfach eingesetzt wurde, im kommenden Jahr in Serie produziert werden. Der Bau von
3.000 Marschflugkörpern sei geplant, kündigte er in einer Rede vor dem
Parlament in
Kyjiw an. Tags zuvor hatte das Verteidigungsministerium mitgeteilt, in diesem Jahr seien
100 Neptun-Flugkörper produziert worden, die Waffe habe
Serienreife erreicht. Zudem testet die Ukraine derzeit nach eigene Angaben mehrere Typen
ballistischer Raketen aus
Eigenproduktion. Wie fortgeschritten die Arbeiten daran sind, ist aber
unklar.
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