AKM / 21. Juni 2021 / von Roman Köppl
„Auch beim Gegner wird heldenmütig und mit Hingabe gekämpft.“
Die Grenzschlacht im Südabschnitt der Ostfront, 22. Juni bis 2. Juli 1941
Am
16. Juni 1941, sechs Tage
vor dem Beginn der
Operation „Barbarossa“, notierte Propagandaminister
Joseph Goebbels über den
bevorstehenden Feldzug gegen die
Sowjetunion:
„Der Führer schätzt die Aktion auf etwa 4 Monate, ich schätze viel weniger. Der Bolschewismus wird wie ein Kartenhaus zusammenbrechen.“1
Der Chef des Generalstabs des Heeres,
Generaloberst Franz Halder, glaubte, dass das wichtigste strategische Ziel des Feldzugs die sowjetische Hauptstadt sei; würde Moskau fallen, so kollabiere auch die sowjetische Widerstandskraft.2 Daher legte er mit Hitlers Einverständnis den Schwerpunkt der Operation „Barbarossa“ auf den
mittleren Frontabschnitt.
Das war eine
kuriose Entscheidung, denn 129 Jahre zuvor war Napoleon Bonaparte ebenfalls davon ausgegangen, die
Eroberung Moskaus würde seinen Russlandfeldzug
siegreich beenden.
...
Gleichwohl wusste jeder Generalstabsoffizier, dass Napoleons Entscheidung,
alles auf die Eroberung Moskaus zu setzen, eine verhängnisvolle
Fehlkalkulation gewesen war.
...
Fatale Unterschätzung
Die Deutschen
rechneten sogar damit, dass die Sowjets in der Ukraine ihre
stärksten Kräfte konzentriert hatten.5 Doch sie glaubten, die Verbände der eigenen Heeresgruppe Süd (Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt) wären
stark genug, um
rasch mit dem Gegner fertig zu werden. Etwa
1 Million Soldaten der Wehrmacht standen im
Südabschnitt der
Ostfront für den Angriff auf die Sowjetunion bereit. Sie verfügten über
12.260 Geschütze und Granatwerfer sowie
960 Panzer und Selbstfahrlafetten.6
Als
Speerspitze des
Angriffs waren die
fünf Panzerdivisionen der
Panzergruppe 1 (Generaloberst Ewald von Kleist) vorgesehen.
Die Abteilung Fremde Heere Ost des Generalstabs des Heeres schätzte, dass die Rote Armee im Kiewer Sondermilitärbezirk
drei Panzerdivisionen zur Verfügung habe. Allerdings wurde vom Angriff der Heeresgruppe Süd ein
weiterer Militärbezirk erfasst, und zwar der
südlichste aller grenznahen Militärbezirke: der Militärbezirk von
Odessa. Für beide zusammen rechnete die Abteilung Fremde Heere Ost mit insgesamt 56 gegnerischen Schützen- und elf Kavalleriedivisionen.7 Diese Schätzung lag sogar
deutlich über den tatsächlichen Zahlen. In Wirklichkeit hatte die Rote Armee in den Militärbezirken von Kiew und Odessa nur
45 Schützen- und Gebirgs-Schützendivisionen sowie
fünf Kavalleriedivisionen versammelt.
Mit insgesamt etwa
1,25 Millionen Rotarmisten in den
südlichen Grenz-Militärbezirken hatten die Sowjets im Vergleich zur
Heeresgruppe Süd nur eine
relativ geringe personelle
Überlegenheit.8
Den
12.260 Geschützen und Granatwerfern der Heeresgruppe Süd standen allerdings auf
sowjetischer Seite 23.575 gegenüber, also
fast doppelt so viele.9 Noch weitaus
ungünstiger für die
Wehrmacht sah das Verhältnis bei den
Panzerkräften aus. Statt der
fünf Panzerdivisionen, mit denen die Abteilung Fremde Heere Ost rechnete, verfügte die Rote Armee allein im Kiewer Sondermilitärbezirk über
16 Panzerdivisionen. Vier weitere waren im Militärbezirk von Odessa stationiert.10 Einschließlich der Reserven, welche die sowjetische Führung noch bei Kiew disloziert hatte, traten den
960 Panzern und Selbstfahrlafetten der Heeresgruppe Süd
7.546 sowjetische Panzer entgegen.11
Doch nicht nur die fast
achtfache zahlenmäßige Überlegenheit der
sowjetischen Panzerkräfte stellte eine
böse Überraschung für die Deutschen dar. Die Soldaten der Wehrmacht ahnten nicht, dass die Rote Armee mittlerweile über
Panzertypen verfügte, die
allen deutschen Kampfwagen hinsichtlich Feuerkraft, Panzerschutz und Beweglichkeit
überlegen waren.12 Der deutschen Feindaufklärung war die Einführung des mittleren Panzers
T-34 und der schweren Modelle
KW-1 und
KW-2 verborgen geblieben.13 Dabei verfügten allein die Panzerverbände des
Kiewer Sondermilitärbezirks insgesamt über
774 T-34 und KW.14
Darüber hinaus befanden sich im Angriffsabschnitt der
Heeresgruppe Süd Teile der sogenannten
Molotow-Linie, die hier bereits relativ gut ausgebaut waren.15 Dieses sowjetische Gegenstück zur berühmten französischen Maginot-Linie sollte die neue sowjetische Westgrenze sichern. Allerdings war sie im Juni 1941 noch nicht fertiggestellt und erst teilweise einsatzbereit.16 Dennoch waren die Deutschen nach dem Überschreiten der Grenze überrascht, wie
gut die sowjetischen Bunkeranlagen konstruiert – und
wie schwer sie zu
bekämpfen waren.17
...
Erst fünf Wochen später gelang es der Heeresgruppe Süd, bei Uman namhafte sowjetische Kräfte abzuschneiden. Bis die dortige Kesselschlacht endgültig beendet war, vergingen jedoch weitere zehn Tage. 47 Zu dieser Zeit begann sich bereits abzuzeichnen, dass das
strategische Pendel in Kürze zu
ungunsten des Deutschen Reiches zurückschwingen würde.
Anders als Goebbels geglaubt hatte, war der „Bolschewismus“
nicht wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Auch Hitlers Hoffnung, die Sowjetunion
niederzuwerfen,
bevor die
USA ihr Kriegspotenzial in die Waagschale werfen könnten, erfüllte sich
nicht. Während die Kräfte des deutschen Ostheeres dahinschmolzen und die Ausfälle nicht mehr ersetzt werden konnten, gelang es der Sowjetunion,
ab September 1941 gewaltige Mengen von
Menschen und
Kriegsmaterial zu mobilisieren.48
Wahrscheinlich wusste Hitler, dass seine einzige Chance, den Krieg militärisch zu gewinnen, darin bestand, die Sowjetunion so
rasch und
entscheidend niederzuwerfen, wie es die
Planung für die Operation „Barbarossa“
vorsah. Zumindest hätte die Wehrmacht bereits
1941 die
Ölquellen im Kaukasus
erobern müssen, um den Krieg auf
längere Sicht erfolgreich weiterführen zu können.49 Dass sie dies nicht schaffte und der Plan für den Feldzug gegen die Sowjetunion spätestens im Herbst 1941 gescheitert war, lag nicht zuletzt an dem
verbissenen Widerstand, den die
Rote Armee in der
Grenzschlacht im
Südabschnitt der Ostfront geleistet hatte.
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