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Zum Status von Tibet: Völkerrechtliche Grundlagen und die Haltung der Bundesregierungen Ausarbeitung (Aktualisierte und ergänzte Fassung der Ausarbeitung WD 2 – 182/06)
Auszug:
2.1. Die völkerrechtlichen Kriterien des Staatsbegriffes
Die Existenz und die territoriale Ausdehnung von Staaten wird in der völkerrechtlichen Literatur und der Staatenpraxis grundsätzlich unter
Effektivitätsgesichtspunkten bestimmt. Ein Staat liegt demnach dann vor, wenn über die auf einem bestimmten Teil der Erdoberfläche (Staatsgebiet) dauerhaft ansässigen Personen (Staatsvolk) eine
effektive Hoheitsgewalt ausgeübt wird (Staatsgewalt). Staatsgewalt bedeutet
die Fähigkeit, eine Ordnung auf dem Staatsgebiet zu organisieren (Verfassungsautonomie = innere Souveränität) und nach außen selbstständig und von anderen Staaten
rechtlich unabhängig im Rahmen und nach Maßgabe des Völkerrechts zu handeln (äußere Souveränität).2
Dagegen kommt es nach überwiegender – aber nicht einhelliger – Auffassung auf die völkerrechtliche Anerkennung durch bestehende Völkerrechtssubjekte, also z.B. andere Staaten, nicht an.3
Unter
Anerkennung versteht man die
einseitige Erklärung eines bestehenden Völkerrechtssubjekts, dass es sich bei dem anerkannten Herrschaftsverband um einen
Staat im Sinne des Völkerrechts handelt. 4 Anerkennungen haben jedoch eine wichtige Indizfunktion in Fällen, in denen die Staatseigenschaft eines bestimmten Gebietes umstritten oder unklar ist. 5
Die Nichtanerkennung eines Staates bedeutet nicht, dass zwischen den betroffenen Subjekten keinerlei Rechtsbeziehungen bestehen, sondern nur, dass der übliche völkerrechtliche Verkehr, etwa die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, nicht stattfindet und sich die betreffenden Subjekte gegenseitig nicht als Völkerrechtssubjekte behandeln.
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In der völkerrechtlichen Debatte wird die Frage, ob China entsprechend diesen Voraussetzungen effektive Staatsgewalt in Tibet ausübt – so sie denn überhaupt aufgeworfen wird –
ganz überwiegend bejaht. Tibet ist seit der Kontrollnahme durch die chinesische Volksbefreiungsarmee im Jahr 1950 unter tatsächlicher Kontrolle chinesischer Behörden. Aus dem
Effizienzgedanken wird in der Völkerrechtswissenschaft überwiegend geschlossen, dass die Frage nach der Legitimität eines Staates als solche
grundsätzlich irrelevant ist.
Allerdings gibt es hiervon eine gewichtige Ausnahme:
Territorien, welche unter Verletzung des Gewaltverbotes von einem anderen Staat im Wege der Annexion erlangt wurden, können nicht Teil des eigenen Staatsgebietes werden, selbst wenn der annektierende Staat effektive Staatsgewalt auszuüben in der Lage ist (Grundsatz: ex iniuria non oritur ius).5 Der Grund für diese Ausnahme wurzelt im
Souveränitätsgedanken; er findet seine Rechtsgrundlage im Briand-Kellog-Pakt aus dem Jahr 1928 und ist in der Charta der Vereinten Nationen (VN-Charta) von 1945 verankert: Die kriegerische Gewaltanwendung gegenüber anderen Staaten ist danach verboten (Art. 1 und 2 BriandKellog Pakt; Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta).
2.2. Die Zweischneidigkeit des Souveränitätsgedankens
Der Souveränitätsgedanke ist indes
zweischneidig.
Einerseits folgt daraus, dass es völkerrechtlich
nicht verboten ist, Separationsbestrebungen auf dem eigenen Staatsgebiet zu bekämpfen. Ein solches Vorgehen ist vielmehr Ausdruck der inneren Souveränität eines Staates. Anderen Staaten ist es mithin verboten solche Separationsbestrebungen zu unterstützen. Sie würden damit das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten verletzen. Bei der
Niederschlagung von Separationsbewegungen ist ein Staat aber grundsätzlich an seine völkerrechtlichen Pflichten im Übrigen gebunden; also auch an völkerrechtlich geltende Menschenrechte oder die VN-Charta. 6
Andererseits ist ein bestimmtes Gebiet, welches sich dauerhaft von der Herrschaftsgewalt des ursprünglichen Staates zu trennen vermag, als
neuer Staat zu behandeln, sobald es seinerseits die Kriterien des Staatsbegriffes erfüllt; also
effektive Staatsgewalt über die dauerhaft auf dem losgelösten Gebiet lebenden Personen erringt (Entstehen eines neuen Völkerrechtsubjektes durch Sezession). 7
Vor dem
Hintergrund, dass ein
Erwerb von Territorien unter Verletzung des
Gewaltverbotes durch
Annexion eines anderen Staates
völkerrechtswidrig ist, würde
Gewalt, die
nach diesem Zeitpunkt vom ursprünglichen Staat ausgeht, nun ihrerseits gegen das
Gewaltverbot verstoßen.
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https://www.bundestag.de/resource/bl...8-pdf-data.pdf