„Die Rechtsprobleme des Internationalen Militärtribunals zu Nürnberg“
Hausarbeit zum Hauptseminar „Geschichte und Theorie der Menschenrechte“
Leitung des Seminars: Prof. Dr. Gerhard Kraiker und Prof. Dr. Dieter Sterzel
Sommersemester 2000
Mark Brüggemann (PDF Dossier)
Auszug:
3.2. Der Nürnberger Prozess
Am 19. Oktober 1945 wurde den Angeklagten die Anklageschrift zugestellt, und am 20. November begann der Prozess. Die Alliierten hatten sich in London darauf geeinigt, dass jede der vier Mächte einen Teil der Anklage übernimmt: Die
Amerikaner sollten den Komplex
Verschwörung und
verbrecherische Organisationen übernehmen, die
Briten den Punkt
„Verbrechen gegen den Frieden“, die
Franzosen die
Kriegsverbrechen und
Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, die im Westen begangen wurden, die
Sowjets die im Osten begangenen
Kriegsverbrechen und
Verbrechen gegen die
Menschlichkeit.
Einen Tag vor Beginn des Prozesses legten alle Verteidiger dem Tribunal eine Petition vor, die die Rechtsgrundlagen des Verfahrens in Frage stellten. In der Petition wurde die Ansicht vieler damaliger Völkerrechtsgelehrter vertreten, dass weder der
Briand-Kellogg-Pakt noch irgendwelche anderen
internationalen Übereinkünfte eine
Strafbarkeit der
„Entfesselung des ungerechten Krieges“ begründen könnten
(Vorwurf der Einführung rückwirkender Straftatbestände).
Darüber hinaus wurde bemängelt, dass der Gerichtshof ausschließlich aus Vertretern der Siegermächte bestehe
(Vorwurf der Siegerjustiz). Die Verteidigung verlangte, „der ´Gerichtshof möge von international anerkannten Völkerrechtsgelehrten Gutachten über die rechtlichen Grundlagen dieses auf dem Statut beruhenden Prozesses einholen´.“ (TAYLOR 1994, 204)
Diese Petition wies das Tribunal unter Berufung auf Artikel 3 des Londoner Statuts zurück, demzufolge weder das Tribunal noch seine Mitglieder von der Anklage oder der Verteidigung abgelehnt werden können. Der Prozess begann mit der Eröffnungsrede des amerikanischen Hauptanklägers Jackson, in der er auf die Vorwürfe der Einführung rückwirkender Straftatbestände und der Siegerjustiz einging:
„Der Vorzug, eine Gerichtsverhandlung über Verbrechen gegen den Frieden der Welt zu eröffnen, wie sie hier zum erstenmal in der Geschichte abgehalten wird, legt eine ernste Verantwortung auf. Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu bestrafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, dass die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen, sie würde sonst eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben. Dass vier große Nationen [...] nicht Rache üben, sondern ihre gefangenen Feinde freiwillig dem Richterspruch des Gesetzes übergeben, ist eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft eingeräumt hat.“
(zit. n. TAYLOR 1994, 206) Jackson
gesteht hier ein, dass der
Nürnberger Prozess etwas Neues in der Geschichte des Völkerrechts darstellt und begründet diese Neuerung mit der Zivilisationsbedrohung, die der Nationalsozialismus über die Welt gebracht hat, sieht somit das Nürnberger Tribunal als eine Art „völkerrechtliche Notwehr“ gegen die Verneinung jedweder Grundsätze von Humanität an.
Dem Vorwurf der Siegerjustiz entgegnet Jackson mit dem Argument, die Alliierten hätten, wäre es ihnen um Rache gegangen, gar kein Gericht eingesetzt, sondern mit ihren Gefangenen nach eigenem Ermessen verfahren können. Diese Argumentation deutet ein komplexes juristisches Problem an, über das in der unmittelbaren Nachkriegszeit von Völkerrechtlern viel diskutiert wurde:
Die Rechtslage Deutschlands nach der bedingungslosen Kapitulation und der daraus folgende
rechtliche Status, den die Herrschaft der Alliierten über Deutschland besaß.
Zwei Möglichkeiten sind hier denkbar:
a) Die Alliierten übten in der Nachkriegszeit eine
occupatio bellica aus.
b) Die Alliierten übernahmen nach der
Debellation (= völligen militärischen Niederwerfung) Deutschlands
sämtliche Staatsgewalt des
besiegten feindlichen Staates.
Unter der
occupatio bellica „ist nach überkommenem Völkerrecht die bloße militärische Besetzung einzelner Teile oder des ganzen Gebietes eines fremden Staates im Verlaufe einer kriegerischen Auseinandersetzung unter fortdauerndem Bestand von dessen Eigenstaatlichkeit und Handlungsfähigkeit zu verstehen. Die Rechtsordnung des besetzten Staates bleibt trotz
Occupation erhalten, seine Souveränität wird
nicht beseitigt. [...]
Nach der klassischen Vorstellung kam der Besatzungsmacht die Jurisdiktionsbefugnis nur insoweit zu, als dies zur Sicherung der öffentlichen Ordnung [...] notwendig ist. Zur Sicherung der öffentlichen Ordnung zählte in erster Linie die Sicherung der occupierenden Streitkräfte und ihrer militärischen Operationen. Danach sollte jede Besatzungsmacht die Befugnis haben, den strafrechtlichen Schutz in diesem Rahmen durch Eigengerichte sicherzustellen“ (JUNG 1992, 112).
Diese
Eigengerichte der Besatzungsmächte waren nach der
Haager Landkriegsordnung lediglich berechtigt, Kriegsverbrechen im engen Sinne (d.h. entsprechend
Punkt 6b des Londoner Statuts) abzuurteilen.
Somit gingen die Kompetenzen des Nürnberger Tribunals weit über die im Rahmen der occupatio bellica zulässigen Jurisdiktionsbefugnisse hinaus. Eine occupatio bellica im klassischen Sinne lag jedoch nach dem 8. Mai 1945 auch gar nicht mehr vor, da die Voraussetzung der occupatio bellica das Fortdauern der Kampfhandlungen ist, Deutschland aber kapituliert hatte und auch de facto keinen militärischen Widerstand mehr leistete (vgl. JUNG 1992, 113).
Die
Debellation hingegen ist „
die völlige kriegerische Niederkämpfung und die daraus resultierende Vernichtung einer selbständigen staatlichen Existenz in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht [...]. Der Sieger übt die völkerrechtliche Herrschaft über das besetzte Gebiet aus und ist an die Regeln der HLKO [Haager Landkriegsordnung, Anm. MB] nicht gebunden“ (JUNG 1992, 111).
Das Nürnberger Tribunal wäre bei einer solchen Rechtslage hinreichend legitimiert, denn wenn die Alliierten sämtliche staatliche Hoheitsgewalt über Deutschland übernommen hatten, dann auch das Recht, die Straftatbestände für die Bestrafung von Kriegsverbrechern festzulegen und ein Gericht zur Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher einzusetzen.
Wenn der amerikanische Hauptankläger Jackson argumentiert, statt Rache zu nehmen, überantworte man die gefangenen Feinde freiwillig einem Gerichtshof, so scheint er der Rechtsauffassung, Deutschland befinde sich im Zustand der debellatio, zuzuneigen, denn die Freiwilligkeit setzt voraus, dass man auch anders hätte verfahren können (wie dies auch im Vorfeld von Nürnberg vorgeschlagen wurde – nämlich Massenhinrichtungen ohne Prozess).
Auch das Kontrollratsgesetz Nr. 10, mit dem die Alliierten „die oberste Gewalt“ („supreme authority“) über Deutschland übernahmen, deutet auf diese Rechtsauffassung von der debellatio Deutschlands hin. Andererseits jedoch konnte die Debellation nach überkommener Lehre des Völkerrechts nur auf dem Wege der Annexion erfolgen, d.h. der Eingliederung der unterworfenen Gebiete und Bevölkerungen ins eigene Staatsgebiet bzw. Staatsvolk, was ganz offensichtlich nicht der Fall war und von den Alliierten auch ausdrücklich verneint wurde (vgl. JUNG 1992, 112).
Darüber hinaus erlosch mit der Kapitulation auch nicht sämtliche deutsche Staatsgewalt, da etwa der staatliche Verwaltungsapparat weitgehend intakt blieb.
Die Rechtsstellung Deutschlands nach 1945 war somit ein vom klassischen Völkerrecht nicht vorgesehener, präzedenzloser Zustand, und dies erschwerte einerseits die formale juristische Legitimation des Nürnberger Tribunals, war aber andererseits ein deutliches Signal, das Völkerrecht den neuen Gegebenheiten anzupassen, zu modernisieren.
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https://www.audimax.de/fileadmin/hau...rg_ahx0562.pdf