Blick.ch / 05.03.2022 / von * Gal Beckmann
Die Geschichte Selenskis
Wie aus einem jüdischen Aussenseiter ein ukrainischer Volksheld wurde
Die Russen wollen die Ukraine «entnazifizieren». Doch an der Spitze des ukrainischen Staates steht mit Wolodimir Selenski ein Jude. Seine Geschichte macht Hoffnung. Manche sagen, Geschichte wiederhole sich. Jene, die das glauben, finden im Krieg in der Ukraine einen Beweis für ihre These. Alles wirkt wie einem bekannten Drehbuch entnommen, nur die Schauspieler wurden ausgetauscht – bei Protesten gegen den russischen Angriff tauchten Plakate auf, auf denen Putin ein Hitler-Schnauz ins Gesicht retuschiert wurde. Doch ein Mann nimmt eine Rolle ein, die niemand vorhersehen konnte:
Wolodimir Selenski.
Das ist der neue Präsident der Ukraine
Sieg in der Ukraine: Komiker Wolodimir Selenski zum Präsidenten gewählt
Der 44-Jährige, der vom
Komiker zum
Präsidenten wurde, hat sich entschlossen, das Schicksal mit jenem seiner Landsleute zu teilen. Und sich trotz westlicher Angebote geweigert, aus dem Land ausgeflogen zu werden. Nun ist er «das Ziel Nr. 1» der Russen. Für die Welt aber ist er der Ukrainer Nr. 1. Das Bemerkenswerte, das wirklich Erstaunliche in dieser Geschichte des Wolodimir Selenski ist, dass seine
jüdische Herkunft ihn nicht daran gehindert hat, zum
Symbol der
ukrainischen Nation zu werden.
In der
Sowjetunion, die
Selenski und seine
Eltern prägte, galten
Juden als
ewige Aussenseiter, als mögliche
fünfte Kolonne des
Westens, als
«wurzellose Kosmopoliten» in Stalins Vorstellung.
Sie lebten in der russischsprachigen
Stadt Krywyi Rih im östlichen Teil der damaligen
ukrainischen Sowjetrepublik, wo
Antisemitismus seit jeher
besonders stark ausgeprägt war, ein
Erbe der
Pogrome und der
Kollaboration mit den
Nazis.
Unmittelbar ausserhalb des umkämpften Kiew liegt Babyn Jar, wo 1941 innerhalb von zwei Tagen 33’771 Juden erschossen und in eine Schlucht geworfen wurden. Nun ist Selenski die
Lichtgestalt der Nation – eine unerwartete Entwicklung für ein Land, das die
Juden immer wieder
loszuwerden versuchte.
Wie die meisten
sowjetischen Juden waren Selenskis Eltern
hochgebildet, aber in ihren Ambitionen und Entwicklungsmöglichkeiten
stark eingeschränkt. Sein
Vater war
Professor für Mathematik, seine
Mutter hatte
Ingenieurwesen studiert. Dies waren
typische akademische Karrieren für
sowjetische Juden, die wussten, dass sie in kulturell und gesellschaftlich prägenden Studienfächern keine Aussicht auf eine berufliche Laufbahn hatten – und sich deshalb einer nach dem anderen den angewandten
Naturwissenschaften zuwandten.
Eine ganz normale jüdische Familie?
Öffentlich spielte Selenski sein
Judentum immer herunter. In einem Interview im Jahr 2020 sagte er, er stamme aus einer
«normalen sowjetischen jüdischen Familie» und fügte an, dass
«die meisten jüdischen Familien in der Sowjetunion nicht religiös waren».
Dies kaschiert jedoch die Tatsache, dass es in der Sowjetunion
keine jüdische Identität gab, weil es sie nicht geben konnte.
Jude zu sein, bedeutete ab der Zeit
Stalins, einen
Eintrag in seinem
Personalausweis zu haben, der einen als
solchen auswies (so wie auch eine
ukrainische oder
lettische Herkunft angegeben wurde).
Es gab nur sehr wenige Möglichkeiten für die jüdische Gemeinschaft, religiöse Riten oder ihre Alltagskultur zu leben. Im Gegensatz zu den Ukrainern und Letten, die innerhalb des Sowjetimperiums nationale Heimatrepubliken hatten, in denen ein gewisses Mass an Kultur und Sprache erlaubt war, solange sie sich an die kommunistische Parteilinie hielten, hatten
Juden nichts dergleichen. Die
Synagogen waren meist
geschlossen oder mit KGB-Spitzeln
infiltriert. Bis in die späten 1980er-Jahre war es praktisch ein
subversiver Akt, sich zu etwas so Harmlosem wie einem
Pessachfest zu versammeln, und
Hebräischunterricht war schlicht nicht erlaubt.
Zur Zeit, als Selenski erwachsen wurde, hatte für drei oder vier Generationen sowjetischer Juden jüdische Identität einzig auf dem gemeinsamen Gefühl der
Ausgrenzung und dem Status als
Bürger zweiter Klasse beruht. Egal, wie sehr sie den russischen Nationaldichter Puschkin verinnerlichten,
Juden gehörten
nie richtig dazu. Als die Sowjetunion in den
1970er-Jahren begann,
Juden die
Auswanderung zu gestatten, nutzten viele die Gelegenheit dazu – auch die gut ausgebildeten Mathematiker und Ingenieure, die in ihrem Bereich eine bescheidene Karriere hatten machen können. Anfang der
1990er-Jahre, kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, wurde Auswanderung zu einer Massenbewegung, und etwa
1,5 Millionen Juden machten sich auf den Weg in die
Vereinigten Staaten und nach
Israel.
Die Selenskis wanderten nicht aus
Selenski und seine Familie gehörten zu den
wenigen Hunderttausend Juden, die blieben und sich in der postsowjetischen Welt
assimilierten. In den letzten 20 Jahren gab es zwei sich überschneidende Entwicklungen, die den Status der
Juden in der Ukraine veränderten. Erstens erlaubte das Ende der Sowjetunion, den verbliebenen Juden ein
jüdisches Gemeindeleben aufzubauen. In der ostukrainischen Stadt Dnipro, nicht weit von dem Ort entfernt, an dem Selenski aufgewachsen ist, gibt es heute wieder
zehn Synagogen und ein riesiges
Gemeindezentrum namens
Menorah, das
2012 eröffnet und Berichten zufolge von täglich
40’000 Menschen besucht wurde – obwohl es in Dnipro nur
60’000 Juden gibt. Im Jahr 2019 war die Ukraine laut einer Umfrage des Pew Research Center unter allen mittel- und osteuropäischen Ländern das Land mit der
grössten Akzeptanz gegenüber
Juden.
In der
Ukraine eröffneten sich jüdischen Menschen
neue Möglichkeiten – und sie traten an vorderster Front für eine
demokratische und
freie Ukraine ein. Prominente j
üdische Aktivisten nahmen
2013 an den
Euromaidan-Demonstrationen teil, die Anfang
2014 den
Sturz des prorussischen Präsidenten
Viktor Janukowitsch erzwangen. Später im selben Jahr gründete der
jüdische Gouverneur der
Region Dnipropetrowsk eine
Miliz zur Verteidigung gegen die von Russland unterstützten Separatisten im Osten und half
persönlich bei der
Finanzierung.
Ein Aussenseiter wird Präsident
Selenskis politischer Aufstieg vollzog sich in diesem Kontext. Rückblickend ist es fast schon unheimlich, dass die Figur, die er im Fernsehen in der Serie
«Diener des Volkes» spielte, die eines Nobodys ist, dessen Aufstieg mit einer Schimpftirade beginnt, die gefilmt und im Internet verbreitet wird. Selenski wurde in der Ukraine bekannt, indem er eine Rolle spielte, die Juden in der Ukraine lange eingenommen haben: jene des Aussenseiters. Die Ukrainer, bedroht in ihrer Unabhängigkeit und in ihrer nationalen Identität, erkannten sich im Aussenseiter Selenski wieder. Möglicherweise war es dieser Aspekt
seiner jüdischen Herkunft und die
Art und
Weise, wie er sich mit den ukrainischen Ängsten verband, die ihn plötzlich zu einer so populären Figur machten – und ihn
2019 mit
73 Prozent der Stimmen Präsident werden liessen.
In diesen Tagen des Krieges und der Ungewissheit nährt die Tatsache, dass ein
Jude den
Kampfgeist der
Ukraine verkörpert, eine ganz spezielle Art von Hoffnung. Neben all dem, was sich in der Geschichte zu wiederholen scheint – die militärische Aggression, der Angriff auf die Freiheit –, gibt es auch etwas Neues: Integration und Akzeptanz an einem Ort, an dem dies einst unmöglich schien.
* der Jude Gal Beckerman ist Autor beim amerikanischen Magazin «The Atlantic»
https://www.blick.ch/ausland/die-ges...d17289683.html